Muss ich, wenn ich bei einer Scheidung älter als 45 Jahre alt bin, wieder arbeiten gehen?

Vor der Änderung der Rechtsprechung im Jahre 2021 galt die grundsätzliche Regel, dass einem Ehepartner, welcher während der Ehe nicht gearbeitet hat und bei der Aufhebung des gemeinsamen Haushaltes älter als 45 Jahre alt ist, grundsätzlich nicht zugemutet werden kann, wieder eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Seit der Änderung der Rechtsprechung gilt dieser Regel nicht mehr.

Heute geht das Gericht – ausser bei einer Betreuung von Kindern unter 16 Jahren – grundsätzlich von der Zumutbarkeit einer vollen Erwerbstätigkeit aus, solange eine solche auch tatsächlich möglich ist.

Es wird jedoch auch heute immer zu einer Einzelfallbetrachtung kommen, denn auch wenn das Alter bei der Frage der tatsächlichen Möglichkeit noch immer eine entscheidende Rolle spielt, so ist es nicht mehr wie früher das einzige, von allen übrigen Faktoren losgelöste, Kriterium zur Beantwortung der Fragen über eine Wiederaufnahme einer Erwerbstätigkeit. Das bedeutet, dass bei der Frage der Möglichkeit der Wiederaufnahme einer Erwerbstätigkeit nebst dem Alter nun auch anderen Faktoren wie die Gesundheit, die Sprachkenntnisse, die bisherigen Ausbildung, mögliche künftige Ausbildungen, die Lage auf dem Arbeitsmarkt und die persönlichen Fähigkeiten betrachtet werden.

Beispiel: Anna ist bei der Scheidung 46 Jahre alt und hat während der 10-jährigen Ehe nie gearbeitet. Nach er früheren Rechtsprechung wäre ihr eine Wiederaufnahme einer Erwerbstätigkeit nicht zuzumuten. Neu gilt, dass das Gericht schauen wird, wie der gesundheitliche Zustand von Anna ist, was für Ausbildungen sie in der Vergangenheit gemacht hat, wie die Situation auf dem Arbeitsmarkt für diese Berufe ist und unter Umstände welche Weiterbildungen Anna machen könnte, um Ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu steigern.

Folglich geht ein Gericht wie folgt vor. Es prüft als erstes anhand aller obigen Kriterien, ob eine Wiederaufnahme einer Erwerbstätigkeit überhaupt tatsächlich möglich ist. Wenn jedoch bspw. in der Vergangenheit lediglich eine Ausbildung für einen Beruf gemacht wurde, bei welchem es keinerlei freien Arbeitsstellen gibt oder der gar ausgestorben ist, wird nicht automatisch entschieden, dass eine Wiederaufnahme unmöglich ist. Es wird grundsätzlich prüfen welche Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten für den betreffenden Ehegatten bestehen.

In einem Fall vor Bundesgericht, in welchem die Frau vor 25 Jahren eine Informatikausbildung abgeschlossen hat und nur wenige Jahre auf diesem Beruf gearbeitet hat, bevor sie sich der Erziehung der Kinder und der Führung des Haushaltes gewidmet hat, wurde ein beruflicher Wiedereinstieg als Informatikerin aufgrund vieler nötiger Weiterbildungen als nicht «möglich» abgetan. Jedoch erkannte das Gericht die Möglichkeit im Gastgewerbe, im Detailhandel oder in der Pflege eine Anstellung zu finden. Dadurch bejahte es die tatsächliche Möglichkeit und so auch die Zumutbarkeit einer Wiederaufnahme der Erwerbstätigkeit.

Gerade eine Anstellung im Pflegebereich, welcher bereits nach einer nur viermonatigen SRK-Ausbildung möglich und wofür Bewerber sehr gesucht sind, ziehen Gerichte gerne in Betracht, um von einer tatsächlichen Möglichkeit der Wiederaufnahme der Erwerbstätigkeit auszugehen.

Wenn das Gericht eruiert hat, ob und in welchem Ausmass eine Wiederaufnahme tatsächlich möglich ist, schliesst es grundsätzlich darauf, dass diese auch zumutbar ist. Die Folge daraus ist, dass dem Ehegatten – auch wenn er sich entscheidet keine Erwerbstätigkeit aufzunehmen – bei der Unterhaltsberechnung ein sogenanntes hypothetisches Einkommen zugerechnet wird.

❓ Hypothethisches Einkommen:

Ein hypothetisches Einkommen ist ein für die Gerichte möglich erzielbares Einkommen eines Ehegattens. Es wird dem Ehegatten bei der Unterhaltsberechnung eingesetzt egal, ob dieser eine Stelle antritt oder nicht. Dadurch verringert sich der Mankobetrag, den der andere Ehegatte als Unterhalt bezahlen muss.

Bei der Frage der Höhe des hypothetischen Einkommens wird zuerst geschaut in welchem Beruf für den betreffenden Ehegatten tatsächliche Anstellungsmöglichkeiten bestehen. Wenn der Ehegatte Kinder unter 16 Jahren betreut, wird ihm nur ein Teilzeitpensum zugemutet. Bei Kindern über 16 Jahren jedoch grundsätzlich ein Vollpensum. Als Pflegehilfskraft wird beispielsweise bei einem Vollpensum mit einem Nettoeinkommen und somit von einem hypothetischen Einkommen von rund 4'300 CHF gerechnet. Geht das Gericht also davon aus, dass ein Ehegatte als Pflegehilfskraft arbeiten kann, setzt es diesem bei der Unterhaltsberechnung 4'300 CHF als Einkommen ein. Dadurch verringert sich ein allfälliger Unterhaltsbetrag des anderen Ehegattens und zwar unabhängig davon, ob eine solche Stelle überhaupt angetreten wird.

Nur in Ausnahmefällen wird bei einer Bejahung einer tatsächlichen Möglichkeit dennoch entschieden, dass diese Unzumutbar sei. Ein Grund hierfür könnte sein, dass der betroffene Ehegatte sehr kurz vor dem Pensionsalter ist. Unter gewissen Umständen kann auch das Vorliegen einer sogenannten Lebensprägenden Ehe eine Unzumutbarkeit zur Folge haben.

Kurzum: Von der früheren Rechtsprechung, dass einem Ehegatten, welcher während der Ehe nicht gearbeitet hat und bei der Scheidung / der Auflösung des gemeinsamen Haushalts über 45 Jahre alt ist, nicht mehr zugemutet werden kann wieder eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen, wird heute abgesehen. Heute prüft das Gericht für jeden Fall einzeln anhand des Alters, der Ausbildung, der gesundheitlichen Umstände etc., ob es für einen Ehegatten tatsächlich möglich und somit auch zumutbar ist eine Erwerbstätigkeit wieder aufzunehmen.

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